Von der Hölle auf Erden und vom Glück, eine beherzte Menschenfrau zu haben

 

Bis zum Abend des 23. Juli waren drei weitere Brüder aus ihren Eiern geschlüpft, ein dunkler, ein blonder und ein rotgoldener. Mama seufzte und murmelte ihn ihren Bart: "Das wird die Menschenfrau nicht erfreuen..." Dann wandte sie sich dem letzten Ei zu, rollte es vor ihre Brust und betrachtete es sorgenvoll. Das letzte Kindchen hatte noch nicht einmal auch nur ein winziges Löchlein in seine Eischale gebrochen; während Stunden hatte es zunehmend lauter und verzweifelter nach der Mama gerufen,  war dann immer leiser geworden und schliesslich verstummt, obschon die Mama unablässig mit ihm sprach und auch wir Brüder es lautstark anspornten, endlich aus dem Ei zu kommen.

 

Kurz darauf erschien die Menschenfrau und setzte einige Schälchen vor uns ab, beugte sich zur Mama und kraulte ihr die Brust. Dabei betrachtete sie das letzte Ei lange und mit gefurchter Stirn, nahm es schliesslich beherzt an sich und wisperte der Mama zu: "Ich schau mal, ob ich ihm helfen kann. Keine Sorge, ich werde sehr behutsam sein." Dann trug sie das letzte Kindchen fort.

 

Mama seufzte tief und lockte im selben Atemzug: "Dann kommt mal her, Jungs, und seht, was die Menschenfrau uns mitgebracht hat: himmlische Leckereien! Lasst sie euch schmecken!"

 

 

Während Mama uns die himmlischen Leckereien vorstellte hartgekochtes Eigelb mit Mohnsamen, zerriebenen Haferflocken, feingeschnittenen Brennessel- und Oreganoblättchen, garniert mit Mehlwürmern , erzählte sie uns von dem Ort, an dem sie gelebt hatte, ehe unsere Menschenfrau sie zusammen mit zwei Schwestern in eine kuscheligwarme Kiste gepackt und mitgenommen hatte:

 

"Es war die Hölle auf Erden. Ich lebte mit vielen Geschwistern in einem kleinen dunklen Verschlag, der mit nacktem Zeitungspapier ausgelegt war.  Wir hatten keine Mama und waren ganz auf uns alleine gestellt. Wenn uns kalt war, konnten wir unter eine Wärmeplatte kriechen, aber die war so klein, dass wir nicht alle zusammen darunter Platz fanden und immer einige von uns frieren mussten. Wir bekamen stets nur eine kleine Menge sogenannter "Pellets" zu essen, die uns nicht schmeckten, und waren ständig hungrig. Viele von uns waren kümmerlich und krank, doch die dortige Menschenfrau scherte das nicht. Eines Tages steckte sie mich und zwei Schwestern in eine kleine Plastikkiste, in der wir stundenlang ohne Wärme und Futter ausharren mussten, bis glücklicherweise unsere neue Menschenfrau auftauchte und uns in eine luftige Transportkiste setzte, in der sich Heu, eine Wärmeflasche und zwei Schälchen mit himmlischem Futter befanden, über das wir uns gierig hermachten. Wir waren sieben Wochen alt; meine eine Schwester hatte ein schwarzes Gefieder und war gleich gross wie ich, das andere Schwesterchen war sandfarben-rotgolden und sehr hübsch, aber auch sehr krank und nur halb so gross wie die dunkle Schwester und ich es starb wenige Wochen nach dem Umzug zu unserer neuen Menschenfrau. Das war sehr traurig für die Schwester und mich und auch für die Menschenfrau, denn wir hatten die hübsche Kleine alle sehr lieb und hatten uns immer gemeinsam um sie gekümmert. Aber immerhin durfte sie noch ein paar Wochen den Himmel auf Erden geniessen... Das ist jetzt etwas mehr als vier Jahre her. Wir lebten damals zusammen mit zwei Jungs in demselben hübschen Ställchen wie wir jetzt und ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück."

 

Ich hatte Mamas Erzählung aufmerksam gelauscht und konnte mir die drei Schwestern bildlich vorstellen...

 

 

... doch nun war ich satt und müde, wollte gerne ein bisschen ruhen und war gerade dabei, an die Mama gekuschelt wegzudämmern, als die Menschenfrau erschien, mit glatter Stirn und glänzenden Augen, und behutsam ein dunkles, jämmerlich fiependes Etwas vor Mamas Brust legte. "Es ist ziemlich erschöpft", flüsterte sie, "und schaut ein wenig zerrupft aus, weil die Eihaut so übel am Flaum klebte... aber es ist gesund, hat sich den Dottersack einverleibt, und wird morgen bestimmt recht munter sein."

 

Mama betrachtete das jämmerlich fiepende Etwas mit grossen Augen. Dann gurrte sie beruhigend, hob ihre Brust, gurrte ein weiteres Mal zärtlich lockend, und das letzte Kindchen kroch in ihr kuschelig warmes Federkleid. "Das zweite Enkelchen unserer Doris", flüsterte die Menschenfrau, "und ich fresse einen Besen, wenn es kein Mädelchen ist!"

 

"Doris war der Name meiner dunklen Schwester", raunte die Mama uns zu, "und jetzt habt ihr auch ein Schwesterchen, Jungs!"

 

Kapitel 03