Vom Glück, ein Zuckerschnabel zu sein

 

Die Menschenfrau schlug täglich die Hände über dem Kopf zusammen und sagte, wir gediehen wie Unkraut, und tatsächlich waren uns allen innerhalb einer Woche prächtige Flügel- und Schwanzfederchen gewachsen.

 

 

Auch das Schwesterchen gedieh prächtig, worüber sich Mama und die Menschenfrau ganz besonders freuten.

 

 

Wunderlicherweise freute sich die Menschenfrau aber am meisten über mich und war ständig mit der Kamera hinter mir her, um Dutzende von Bildern zu machen. Meine Flügelchen hatten es ihr besonders angetan...

 

 

... aber am allermeisten interessierte sie sich für meinen noch kaum vorhandener Kamm, wobei sie eins übers andere Mal ausrief: "Nein, was bist du aber auch für ein hinreissendes Zuckerschnäbelchen! Untersteh dich, ein Hähnchen zu sein!"

 

 

Eines Abends nahm die Mama mich vor dem Schlafengehen beiseite und sagte mir folgendes: "Unsere Menschenfrau hat einen Narren an dir gefressen, und wenn du es schaffst, nicht nur zuckersüss, sondern auch noch freundlich und umgänglich zu sein, dann besteht zumindest eine kleine Chance, dass du nicht... nun ja... woanders unterkommen musst, sobald du dich für Hühnerfrauen zu interessieren beginnst. Streng dich also an, mein Sohn, und zeige dich von deiner besten Seite!"

 

Ich war sehr verwundert, weil ich doch von Natur aus freundlich und umgänglich bin und mich stets von meinen allerbesten Seiten zeige, aber am meisten wunderte ich mich darüber, dass die Menschenfrau noch immer nicht kapierte, dass ich ein Junge und somit also tatsächlich ein Hähnchen bin. Ich fragte Mama, warum die Menschenfrau das nicht wisse, und Mama antwortete: "Nun ja, die Menschen sind zwar auf ihre Weise klug und wissen sehr viel, aber in mancherlei Hinsicht sind sie auch dümmer als wir. In ihrem Bemühen, klug zu sein und immer klüger zu werden, vernachlässigen und verlieren sie nämlich ihre Instinkte und begreifen offenbar nicht, dass gerade diese eine unschätzbare Wissensquelle sein können. Ausserdem wünscht unsere Menschenfrau sich so sehr, du mögest ein Mädchen sein, dass der innige Wunsch ihr gleichsam Tomaten auf den Augen wachsen lässt und sie daher nicht sehen kann, dass du zweifellos ein Junge bist."

 

Als uns die Menschenfrau kurz darauf besuchen kam, musterte ich sie sehr ausgiebig und genau, konnte aber beim besten Willen keine Tomaten auf ihren Augen sehen und hatte zugegebenermassen nur die Hälfte von dem verstanden, was die Mama mir erklärt hatte.

 

Da ich mich nicht dümmer zeigen wollte, als ich bin, fragte ich nicht weiter nach, und das Wichtigste hatte ich ja kapiert: Ich habe zwar Pech, weil ich ein Hähnchen bin, aber doch auch Glück, weil ich zugleich ein Zuckerschnabel bin.

 

 

Kapitel 05