Vom Pech, gross und stark zu sein

 

Wir wuchsen weiter und wuchsen und wuchsen... bis die Mama eines Tages fand, wir seien nun gross genug, um selbst für uns zu sorgen. Wir waren zwölf Wochen alt und kamen tatsächlich schon sehr gut alleine zurecht und wenige Tage später begann sich der grosse weisse Bruder für die Hühnerfrauen zu interessieren! Mama hatte uns davor gewarnt und gesagt, wir sollten uns so lang wie irgendwie möglich zurückhalten, denn wer sich nicht von seiner allerbesten Seite zeige, müsse früher oder später in ein neues Zuhause umziehen oder werde unter dem Hackbeil enden, aber der grosse Weisse schlug ihren Rat in den Wind... und so kam es, dass die Menschenfrau ihn dabei ertappte, wie er formvollendet eine seiner Tanten besprang, worauf sie die Hände über dem Kopf zusammenschlug und rief: "Das war's dann also, ihr frühreifen Racker!"

 

In der darauffolgenden Nacht pflückte die Menschenfrau uns Brüder von der Schlafstange und trug uns zurück in den kleinen Stall am Haus, wo wir die ersten zwei Lebenswochen verbracht hatten. Mir war schrecklich elend zumute und ich dachte die ganze restliche Nacht darüber nach, wie es soweit hatte kommen können. Allmählich begann mir das ganze Ausmass des unheilvollen Wortes "Hähnchen" zu dämmern...

 

Als die Menschenfrau uns anderntags besuchen kam und sich auf die Veranda setzte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, ging zu ihr hin und blickte ihr geradewegs in die Augen.

 


"Hast du mich nicht mehr lieb?" fragte ich ohne Umschweife. "Habe ich mich nicht stets von meinen allerbesten Seiten gezeigt, bin ich nicht von Natur aus freundlich und umgänglich und bildschön bin ich nicht länger dein Zuckerschnäbelchen?"

 

Die Menschenfrau erwiderte meinen Blick, bekam feuchte Augen und schwieg eine lange Weile. Schliesslich seufzte sie herzerreissend und sagte: "Natürlich bist du mein geliebtes Zuckerschnäbelchen und wirst es immer sein, aber sieh... es wird nur einer von euch Brüdern bleiben können, und der kannst du nicht sein, weil du zu gross und zu stark bist im Verhältnis zu den allermeisten Hennen deiner Familie."

 

Mir wurde ganz eng um die Brust und ich spürte, wie meine Krone in Schieflage geriet...

 

"Der schüchterne Dunkle und der kleine Rotgoldene sind die einzigen, die in Frage kommen", fuhr die Menschenfrau fort und sprach mehr zu sich selbst als zu mir, "sie sind beide zierlich und haben ein angenehmes Wesen. Ich kann mich bloss nicht entscheiden... und habe daher beschlossen, die Wahl den Hennen zu überlassen."

 

Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich konnte mich bloss räuspern und rein gar nichts sagen.

 

Da blickte die Menschenfrau mir geradewegs in die Augen und sprach: "Du bist der allersüsseste Zuckerschnabel in der ganzen weiten Welt, Caramello, und ich verspreche dir,  dass du nicht und niemals unter dem Hackbeil enden wirst. Ich will nicht eher ruhen, als bis jemand dich findet und dir den Himmel auf Erden bereitet. Jemand, der eine Herde hübscher Mädels für dich hat und ausreichend Platz und ein gutes Herz und eine liebevolle Hand."

 

Mir wurde ganz flau im Magen vor Erleichterung. Ich räusperte mich nochmals und fand meine Stimme wieder, so dass ich fragen konnte: "Und was ist mit meinen Brüdern? Und warum hat Mama gesagt, Namen seien Zauberformeln und wenn man einen bekommen habe, würde man nicht fortgeschickt?"

 

"Das ist ein hartnäckiges Gerücht, das nicht der Wahrheit entspricht", sagte die Menschenfrau. "Jeder Hahn hat ein Anrecht auf einen Namen und ein gutes, möglichst langes Leben es kann bloss nicht jeder ein Zuckerschnabel sein. Und was deine Brüder betrifft: Solange sie sich gut benehmen und vertragen, muss keiner unter dem Hackbeil enden. Ich will versuchen, auch für sie neue himmlische Zuhause zu finden."

 

"Das erleichtert mich ungemein", sagte ich, "weil ich nämlich sehr an meinen Brüdern hänge."

 

Die Menschenfrau lächelte,  wischte sich die Augen trocken und nickte mir zu, stand auf und ging.

 

Kapitel 09