Vom Pech, ein Hähnchen zu sein

 

Als ich in den ersten Juliwochen dieses Jahres gemütlich und geborgen in meiner Eischale unter Mamas kuscheligem Federrock lag und wuchs und wuchs und wuchs... da ahnte ich rein gar nichts von dem, was mich fürderhin erwarten würde, und auch die Menschenfrau, in deren Obhut meine Mama sich befand, war völlig ahnungslos.

 

Früher oder später findet aber jede unbeschwerte Zeit ein Ende und nach 20 Tagen war es soweit: mir wurde eng um die Brust und ich sah mich genötigt, die Schale zu knacken und aus dem Ei zu schlüpfen, was mir nach mühevollen Stunden tatsächlich gelang. Mama hob ihren warmen Leib, steckte den Kopf unter den Federrock, zupfte die die letzten Schalenreste von meinem rotgoldenen Flaum und hiess mich mit zärtlichem Gurren willkommen. Zu meiner grossen Freude war ich nicht der erste Schlüpfling, ein dunkler Bruder war bereits da und begrüsste mich begeistert; wir kuschelten uns aneinander, schlummerten ein wenig und erholten uns von der anstrengenden Schlupfarbeit.

 

Es war der 23. Juli, der Beginn der Hundstage und tatsächlich ein derart heisser Tag, dass einem mit der Zeit hundeelend werden konnte unter Mamas Federrock. So krabbelten mein Bruder und ich nach einem kurzen Schlummer unter dem Rock hervor und Mama schob auch gleich noch zwei Eier nach, deren Bewohner gerade dabei waren, ihre Schalen zu knacken.

 

 

Nach einer Weile erschien ein grosses und sehr sonderbares Wesen in der offenen Stalltür. Mama raunte uns Kinderchen zu: "Unsere Menschenfrau! Fürchtet euch nicht, sie ist nett und wird uns den Himmel auf Erden bereiten, ihr werdet sehen!"

 

Mein Bruder fürchtete sich trotzdem und kuschelte sich ganz dicht an Mama, während ich wagemutig über ein Ei kletterte, um die Menschenfrau genauer betrachten zu können.

 

 

Da neigte sich die Menschenfrau mir zu und hauchte: "Oh... was bist du für ein zuckersüsses Kerlchen!" und hielt inne, als sei sie über ihre eigenen Worte erschrocken. Sie musterte mich lange und skeptisch und flüsterte schliesslich: "Du wirst doch nicht etwa ein Hähnchen sein?!"

 

Ich hatte keine Ahnung, was ein "Hähnchen" ist, aber das Verhalten der Menschenfrau liess mich erahnen, dass mit einem solchen Wort nichts Gutes gemeint sein kann.

 

Später fragte ich Mama, was ein "Hähnchen" sei, und sie erklärte es mir, doch es dauerte eine ganze Weile 12 Wochen, um genau zu sein , bis ich das ganze Ausmass dieses unheilvollen Wortes verstand.

 

 Kapitel 02